U. Hofmann: Das protestantische Milieu in Basel 1920 bis 1970

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Titel
Innenansichten eines Niedergangs. Das protestantische Milieu in Basel 1920 bis 1970


Autor(en)
Hofmann, Urs
Erschienen
Baden 2013: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Metzger, Departement für Historische Wissenschaften, Universität Freiburg (CH)

Mit seiner Dissertation zum Niedergang des protestantischen Milieus in Basel hat der Historiker Urs Hofmann eine Lokalstudie vorgelegt, die sich mit der Transformation des religiösen Feldes und dem Bedeutungsverlust des Kirchlichen befasst. Indem er seiner Arbeit den Untersuchungszeitraum von 1920 bis 1970 zugrunde legt, setzt sich der Autor einerseits zum Ziel, die Verankerung der reformierten Kirche in Basel – insbesondere im Schnittpunkt zwischen Kirche und ausserkirchlicher Gesellschaft – zu analysieren und andererseits die Veränderungen dieser Beziehung nachzuzeichnen. Letztlich zielt Hofmann darauf ab, den sich ab Mitte der 1960er Jahre deutlich bemerkbar machenden Bruch der protestantisch geprägten Basler Gesellschaft mit der Kirche, der sich in erster Linie in der signifikanten Zunahme der Kirchenaustritte manifestierte, zu beleuchten.

Um die anvisierten inhaltlichen Zielsetzungen zu erreichen, wählt Hofmann methodisch eine Kombination von diskurstheoretischen mit struktur- und mentalitätsgeschichtlichen Ansätzen. Nach theoretischen und methodischen Reflexionen sowie einem Kapitel zur spezifischen Struktur der evangelischreformierten Kirche Basels widmet sich denn auch der erste Hauptteil (Kapitel 3) einem diskursanalytisch untersuchten Themenbündel. Dieses umfasst etwa die Diskussionen um die AtomInitiative von 1962, um die Sexualmoral oder um die angebliche vorherrschende Säkularisierung und gesellschaftlich moralische Krise, an denen diskursive Spezifika aufgezeigt und Transformationen innerhalb des von Hofmann postulierten protestantischen Milieus der Stadt am Rheinknie sichtbar gemacht werden. Dabei zeigt er auf, dass die Basler Kirche oder zumindest punktuell einzelne ihrer Exponenten versuchten, Adaptionen an die veränderte Lebenspraxis vorzunehmen. Dabei gerieten zumindest alte theologischkirchenpolitische Fronten ins Wanken, da vorab das konservative Lager an Einigkeit verlor. Vor allem aber macht Hofmann dabei kirchliche Gesellschaftswahrnehmungen sichtbar, die stark von Krisendiskursen geprägt waren.

In struktureller Sicht, so eine Erkenntnis von Hofmann, zeigte sich die Kirche in Basel jedoch bis in die 1970er Jahre nicht reformwillig. Im Zentrum seiner strukturgeschichtlichen Analyse (Kapitel 4) des protestantischen Konfessionsteils steht dabei das protestantische Vereinswesen, welches der Autor als Rückgrat eines protestantischen Milieus in Basel sieht. Anhand verschiedener selbst generierter Statistiken thematisiert Hofmann einerseits die schleichende Abnahme der Anzahl religiöser Vereine seit den 1950er Jahren. Andererseits rückt er die Akteure in den Vordergrund, welche den Vereinen vorstanden. Vorab von Interesse ist für ihn dabei die Pfarrerschaft. Eine vertiefte Analyse erfahren in der Dissertation von Hofmann sogenannte Milieumanager, das heisst Personen – grossmehrheitlich Pfarrer –, welche eine grössere Anzahl von Ämtern auf sich vereinten. Eine ganze Reihe solcher Milieumanager und auch eine Vielzahl von Vereinen werden eingehender portraitiert. Diese Ausführungen sind eher zu lang gehalten, tragen sie doch wenig zur Analyse des Niedergangs des protestantischen Milieus in Basel bei.

Der methodische Mut, sowohl sprachliche als auch strukturelle Kontinuitäten und Transformationen zu analysieren, ist als die grosse Stärke der Dissertation Hofmanns zu sehen. Die Intention, ebenfalls die sich möglicherweise grundlegend verändernde Verankerung der reformierten Kirche in der Baseler Gesellschaft zu untersuchen, erscheint in der Argumentation der Dissertation jedoch teilweise etwas aus dem Blickfeld zu geraten, da primär protestantische «Innenansichten» betrachtet werden. Die Analyse der für die Transformation des religiösen Feldes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so bedeutsamen gesamtgesellschaftlichen ausserkirchlichen Faktoren (Transformationen in Wirtschaft, Kultur, Sozialstruktur etc.) entfällt leider. Sie wird lediglich in der Untersuchung der protestantischen Diskurse tangiert. Diese Diskurse können aber nur als eine durch ein starkes Krisenempfinden geprägte protestantische Gesellschaftswahrnehmung gelesen werden.

Hofmanns Dissertation leistet zweifellos einen sehr bedeutenden Beitrag zur Geschichte des Basler Protestantismus im 20. Jahrhundert und darüber hinaus zur Diskussion über das Ausmass der Veränderungen im religiösen Feld ab den 1950er Jahren. Das umstrittene Konzept der «Säkularisierung» lehnt er dabei nicht ab. Im Gegenteil: Er taxiert die Veränderungen im protestantischen Milieu Basels als Säkularisierungsprozess. Da Hofmann einen stark auf Kirchlichkeit ausgerichteten Religionsbegriff verwendet, beschreibt er letztlich vorab einen Prozess der Entkirchlichung. Der möglichen Transformation des Religiösen wird dabei aber nicht weiter nachgegangen. Diese institutionszentrierte Herangehensweise kann als ein Schwachpunkt der Studie angesehen werden. Sie ist aber vor allem dem Milieuansatz geschuldet, denn es ist ja nicht zuletzt Hofmanns Ziel, ein protestantisches Milieu für Basel institutionell festzumachen und dessen einsetzenden Niedergang nachzuzeichnen. Hofmann kommt zur Erkenntnis, dass für Basel tatsächlich von einem protestantischen Milieu gesprochen werden könne.

Dafür, dass er die in der Schweiz bislang nur auf die Katholikinnen und Katholiken angewandte Milieutheorie am Beispiel des Protestantismus in Basel testet, gebührt Hofmann Lob. Das im Vergleich zur restlichen Schweiz überdurchschnittlich entwickelte protestantische Vereinswesen der Stadt, deutet in der Tat darauf hin, dass im Basler Protestantismus milieuartige Strukturen existiert haben. Warum fand bisher bislang in der Analyse des schweizerischen Protestantismus die Milieutheorie keine Verwendung? Folgende drei Gründe sprechen in den Augen des Rezensenten gegen die Existenz eines übergeordneten schweizerischen respektive deutschschweizerischen protestantischen Milieus – ein solches postuliert auch Hofmann nicht: Ausschlaggebend war erstens die im Unterschied zum Katholizismus fehlende Minderheitensituation, entsprach doch letztlich das Bild einer protestantisch geprägten Schweiz dem Selbstverständnis des schweizerischen Protestantismus. Auch fehlte dem schweizerischen Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus zweitens eine politische Milieupartei. Die Gründung einer solchen wurde auch nicht angestrebt. Drittens war der Protestantismus in der Schweiz durch ein ausgeprägtes theologisches Richtungswesen geprägt. Der Gegensatz zwischen dem konservativen, sogenannt «positiven» und dem liberalen Protestantismus vermunmöglichte eine tiefergehende, richtungsübergreifende Vernetzung auf nationaler Ebene. Wendet man den Blick dem sich innerprotestantisch in einer Minderheitensituation befindenden konservativen Protestantismus zu, dann zeigen sich dort am ehesten Tendenzen zur Bildung eines (Teil)Milieus, zumal dann, wenn man den Blick auf einzelne, oft regionale begrenzte Gemeinschaften wendet. In diesem Zusammenhang von Mikromilieus zu sprechen, besitzt eine gewisse Berechtigung.

Stellte die oft als «frommes Basel» bezeichnete nordwestschweizerische Stadt, in der sich die «Positiven» in einer ungewohnten Mehrheitssituation wiederfanden, einen schweizerischen Sonderfall dar? Das stark ausgeprägte, teilweise überregional, ja global ausstrahlende Vereinswesen mag dafür sprechen. Allerdings zeigte sich auch in Basel ein starker Richtungsgegensatz in der Kirche, der zu organisatorischen Parallelstrukturen etwa in den Pfarreien führte. Dies wird in der Dissertation Hofmanns zu wenig deutlich, zumal auch das konservative Lager heterogen war. So bleiben die für das stark ausgeprägte Vereinswesen sehr bedeutsamen pietistischen Gemeinschaften unterbeleuchtet. Darüber hinaus existierte auch in Basel keine protestantische Partei von Bedeutung. Das Engagement religiöser Kreise in kirchenrelevanten politischen Entscheiden (z.B. Fragen der Trennung von Kirche und Staat) vermag das Fehlen einer Milieupartei nicht zu kompensieren. Hofmanns These eines relativ homogenen protestantischen Milieus in der Stadt Basel erfährt dadurch eine gewisse Relativierung.

Unabhängig von diesen Kritikpunkten bereichert Hofmanns lokalgeschichtliche Forschungsarbeit die schweizerische Protestantismusforschung. Das im hier+jetzt Verlag erschienene Buch ist sehr flüssig geschrieben, auch wenn das extravagante Layout die Lektüre erschwert.

Zitierweise:
Thomas Metzger: Rezension zu: Urs Hofmann, Innenansichten eines Niedergangs. Das protestantische Milieu in Basel 1920 bis 1970, Baden, Hier+Jetzt, 2013,. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 443-445.

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